Gescheiterte Existenzen

Paul Schmitt* hat sich immer auf andere verlassen – und muss jetzt dafür büßen: Seit neun Monaten lebt er auf der Straße.

Einmal, auf dem Heimweg von der Kneipe, waren Schmitt und seine Freundin Anna* so betrunken, dass sie das Fahrrad schob. Schmitt selbst radelte weiter und machte sich ein bisschen über sie lustig. Kurz vor der Wohnung tauchte die Polizei auf. Alkoholkontrolle, 40 Sozialstunden. Nun war es an Anna, ihren Freund auszulachen. Schmitt kichert, wenn er die Anekdote erzählt. Dabei vergisst er manchmal kurz, dass seine Freundin bereits seit vier Jahren tot ist.

Ulm, zehn Uhr morgens. In der Frauenstraße 123 sitzen vier Männer in einem großen Raum; es riecht nach frischem Gebäck und Zigarettenqualm. In einer Ecke flimmert ein Fernseher, doch niemand scheint das Programm zu verfolgen, während sich eine rothaarige Frau um Stühle und Tische schlängelt und Kaffee nachschenkt. Im Laufe des Tages werden bis zu 50 Personen hinzukommen, die in der Tagesstätte des Roten Kreuzes essen, fernsehen oder einfach nur Wärme tanken wollen – Obdachlose. Mehr als 400 leben in Ulm und Umgebung. Ein paar kommen auch nachts beim Roten Kreuz unter und sind somit nicht obdach-, sondern wohnungslos.

Schmitt ist einer von ihnen. Er sitzt in Türnähe, nippt hin und wieder an seinem Kaffee während er eine Zigarette raucht. Obdachlos ist er seit April 2014. Wenn er mit heiserer Raucherstimme vom Rauswurf aus der eigenen Wohnung erzählt, ist es schwer, ihm zu folgen. Schmitt und seine Freundin vertrauten ihr Vermögen einem Freund an – Schmitt nennt ihn nur „den Makler“ – welcher sie hinterging.

„Vermutlich eine Halbwahrheit“, glaubt Karin Ambacher, die Leiterin des Wohnungslosenheims. Ambacher versucht Schmitt zu unterstützen, indem sie Struktur in seinen Alltag bringt. So sieht sie es gerne, dass er sich seit ein paar Wochen regelmäßig zum Skatspielen trifft und täglich spazieren geht – wie auch an diesem Morgen: Gegen halb elf springt er hastig auf und verlässt den Raum. Die Kaffeetasse lässt er halb leergetrunken stehen.

Wenn Schmitt durch die Ulmer Oststadt schlurft, hat er immer seine geflochtene Basttasche dabei; eine, wie sie ältere Frauen zum Einkaufen benutzen. Darin verstaut er Geld, falls vorhanden, eine Decke zum Draufsitzen und eine Wollmütze. Ab und zu kommen Lebensmittel dazu, die Schmitt für ein paar Euro im Tafelladen ersteht. Seine Spaziergänge führen ihn durch den Alten Friedhof, einen düsteren Park und Obdachlosentreffpunkt. Manchmal verweilt Schmitt dort, unterhält sich mit anderen „gescheiterten Existenzen“, wie er zu sagen pflegt, und trinkt Bier aus dem „Treff“, einem schäbigen Supermarkt um die Ecke. Eigentlich bleibt es fast nie bei einem Bier und endet nachts in einem der zahlreichen Casinos, erzählt er.

Ein paar Ecken weiter kümmert sich auch die Caritas um Menschen wie Schmitt. Fachberatungsstelle, Tagesstätte und Aufnahmehaus sind hier unter einem Dach vereint. Der Leiter der Einrichtung, Jörg Riehemann, kann der Unterscheidung zwischen obdach- und wohnungslos wenig abgewinnen: „In den Übernachtungsheimen stehen ein dutzend Stockbetten nebeneinander, es stinkt nach Urin und Schweiß – wie in einem Pantherkäfig. Dass man sowas als Dach über dem Kopf bezeichnen kann, bezweifle ich.“ Einige Obdachlose bevorzugen daher die Bahnhofshalle; solange sie nicht randalieren, sind sie dort willkommen. Die zwölf Personen, die im Aufnahmehaus wohnen, haben es da luxuriöser. Sie sind Teil einer Wohngemeinschaft und können Dinge wie Körperpflege, Wäsche waschen und kochen neu einüben, bevor sie – wenn es gut läuft – nach drei bis sechs Monaten in eine eigene Unterkunft ziehen.

Schmitt bezeichnet seine Jugend als glücklich: „Meine Mutter hat immer drauf geachtet, dass mit mir alles gut is.“ Erst als er auszog und selbst Verantwortung übernehmen sollte, kam der Teufelskreis aus Spielsucht, Alkohol und Scheitern ins Rollen – und hielt an, bis Schmitt sein „Mädel“ kennenlernte. Sie war fortan der Mensch, auf den er sich verlassen konnte, diejenige, die zusah, dass er das Geld nach Hause statt zu den Spielautomaten brachte. Schmitt und seine Freundin bauten sich ein Leben auf: Sie arbeitete im Museum, er ging seinem Beruf als Maler nach. Am Wochenende spazierten sie an der Donau entlang oder unternahmen Radtouren. Eine glückliche Zeit. Bis Anna an Darmkrebs erkrankte. Bevor sie starb, erklärte sie einen Freund zu ihrem Vormund – „den Makler.“

Wenn Schmitt dieser Tage auf einer Parkbank sitzt, wird er angestarrt. Nicht, weil er sich auffällig verhält, sondern weil er vielleicht genau so aussieht, wie sich viele einen Obdachlosen vorstellen: Schäbige Kleidung, Bierbauch, rotes Gesicht mit eingefallenen Wangen. Schmitt ist 67, würde aber auch als zehn Jahre älter durchgehen. Er leidet unter den Blicken der Menschen. Dennoch lacht der Rentner viel. Humor, findet Schmitt, ist überlebenswichtig. Und eines der wenigen Dinge, die er nicht verloren hat.

*Namen geändert

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