Es passiert was!

„Hey V., ich hab gerade mit meiner Mutter telefoniert“, sage ich an meine Mitbewohnerin gewandt. „Sie hat erzählt, dass sie den Kater jetzt auf Diät gesetzt haben.“ – „Was echt? Haha, das wird ihm nicht gefallen!“, sagt V. Ich: „Überhaupt nicht. Während wir telefoniert haben, hat er die ganze Zeit rumgequäkt, wie ein kleines Kind.“ – „Haha, wie lustig!“ Im Anschluss an das Gespräch sehen wir uns ein Video an, in dem besagter Kater vor dem Haus meiner Eltern liegt und sein Fell schleckt.

„Hey Lisa, ich war gerade beim Bäcker“, sagt T. „Cool, was hast du gekauft?“, frage ich interessiert. „Ein Roggenbrot.“ – „Geil. Kann ich mal sehen?“, frage ich und lunze in die Bäckertüte. „Es war nicht so viel los heute“, berichtet T. „Aber es dürfen jetzt nur noch jeweils drei Leute gleichzeitig in den Laden rein, deshalb musste ich erst noch ne Weile draußen warten.“ – „Ah, krass.“ – „Jo. War eigentlich ganz nice. Da, wo ich stand, war‘s sonnig. Das war ganz angenehm.“ – „Sehr schön!“, sage ich. T. erzählt weiter: „Auf dem Rückweg kommt man doch an so nem Haus vorbei, mit schwarz gestrichenem Sockel, weißt du, wo ich mein?“ – Ich (gespannt): „Ja, klar!“ T: „Auf dieser schwarzen Fläche hat wohl ein Kind mit weißer Kreide rumgekritzelt, da sind jetzt lauter Zeichnungen drauf!“ – „Haha, wie gut!“, rufe ich entzückt. Wir lachen ausgelassen. Danach schauen wir uns die Fotos an, die T. auf dem Rückweg vom Bäcker geschossen hat.

So oder so ähnlich verliefen in den letzten Tagen nicht wenige Gespräche in unserer WG. Kein Wunder, schließlich verlassen wir das Haus kaum noch. So ist es mittlerweile ein regelrechtes Spektaktel, wenn wir doch mal raus gehen. Ey, guck mal, was ist das für ein Blumenkübel? Der stand da gestern noch nicht? – Oh schau mal, da sind Menschen, die im Hinterhof Basketball spielen! Krass.

Auf dem Baum vor unserem Haus leben Eichhörnchen. Ich verbringe jetzt viel Zeit damit, sie zu beoachten und nenne sie liebevoll „Eichis“. „Ey T., du hast vorhin was verpasst! Der junge Eichi ist seiner Mutter gefolgt und wär dabei fast vom Baum gefallen!“ – „Krass. Ist das eigentlich noch ein richtiges Baby?“ – „Nee, mehr so ein Jugendlicher, schätze ich.“

Aber noch viel krasser: Der Koch beim Italiener hat uns neulich versehentlich Schinken auf die Pizza gelegt, hatte aber keinen Teig mehr, um ne neue Pizza zu backen. Würden wir trotzdem noch zu unserer vegetarischen Pizza kommen? Letztlich tauschte der Boi den Schinken mit Tomaten aus und schenkte uns als Entschädigung ne Flasche Wein („Die hätte normalerweise 15 Euro gekostet!“) Das war schon ziemlich aufregend.

Seit Neuem fahre ich – wenn Homeoffice nicht möglich ist – mit dem Rad zur Arbeit. Die Impressionen auf dem Weg erschlagen mich fast. Hie ein Garten, der mir noch nie aufgefallen ist, dort eine Familie auf dem Gehweg, die ganz interessant aussieht. Neulich entdeckte ich einen neuen Schleichweg und fand mich plötzlich in einem wunderschönen Park wieder. Ich flippte schier aus!

Das Telefonieren, das Skypen mit Familie und Freunden war anfangs tatsächlich noch spannend. Endlich hatte man Zeit, sich gegenseitig auf den neuesten Stand zu bringen. Doch mittlerweile ist es langweilig geworden. „Ich hab nix mehr zu erzählen“, sagte jüngst eine Freundin mitten in der Skype-Konferenz. In einer anderen Skype-Runde zählt das Baby einer Freundin zu den absoluten Highlights. Haha, was sie jetzt schon wieder macht! Entsetzen breitet sich aus, wenn die Kleine mal nicht mehr im Video ist – und somit nix mehr passiert.

Neulich brachte mich der Tweet einer fremden Person zum Lachen, weil ich mich darin selbst wiedererkannte. Sie schrieb in etwa: „Heute im Supermarkt drei Flaschen Wein auf das Förderband gelegt. Der Mann hinter mir, den Sicherheitsabstand wahrend. ‚Du trinkst wohl gern Wein?‘ Ich: ‚Ja.‘ – Aufregendste Unterhaltung seit drei Wochen.“

Ich selbst war vorgestern auf unserem Balkon und vereinzelte Tomaten. Während ich die kleinen Pflanzen behutsam voneinander trennte, nahm ich eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahr. Eine Nachbarin! Sie hatte mich auch schon entdeckt. Schüchtern lächeln wir uns zu. „Hallo“, sage ich. Sie (erfreut): „Hallo!“ Pause. Dann: „Habt ihr Pflanzen gekauft?“ – „Ja, man hat ja jetzt viel Zeit zum Anpflanzen.“ – „Das stimmt. Geht‘s euch denn gut?“ Daraufhin erzähle ich vom spannenden Alltag in unserer WG. Anschließend erzählt sie von ihrem. Irgendwann beschließen wir: Wenn all das vorbei ist, wollen wir uns mit allen Nachbarn unten im Hof treffen, auf ein Bier oder so. Sie freut sich. Ich mich auch.

Nach dem Gespräch von Balkon zu Balkon muss ich schnell zurück in die Wohnung – meinen Mitbewohnern von der Unterhaltung berichten!

Im Homeoffice

Homeoffice wegen der Corona-Pandemie. Die ersten Tage sind ungewohnt. Erst konferiere ich mit den Kollegen per Telefonschalte, dann beginne ich zu arbeiten. Erste Erkenntnisse: Ich bin fokussierter, werde seltener unterbrochen als im Büro. Der Kaffee tröpfelt nicht langsam aus der Maschine, sondern strömt fix aus der Kanne. Das hat zur Folge, dass ich automatisch mehr von dem Heißgetränk trinke  – was mich irgendwie glücklich macht. Andere Dinge sind hingegen problematisch: Meine Hände und Füße zum Beispiel sind dauerkalt. Warum das so ist, hat sich mir bis jetzt nicht erschlossen. Fehlt mir der hässliche graue Teppichboden aus der Redaktion? Auch mit meinem Stuhl ist es schwierig. Er sieht zwar passabel aus, ist aber leider unbequem.

Gegen 11 Uhr habe ich Hunger, wie fast jeden Tag. Statt mich wie sonst bis zur Mittagspause zu gedulden, hole ich mir eine Prinzenrolle aus der Küche. Um halb 12 muss der zweite Prinz dran glauben. Um halb 1 mache ich Mittagspause. Mitbewohner T. und ich treffen kurz nacheinander in der Küche ein. Hmm, blöd nur, dass niemand was gekocht hat. Wir stehen ein bisschen verloren rum. Dann kochen wir eine zweite Kanne Kaffee und schmieren Brote, die wir im Stehen mampfen. Zum Nachtisch eine Prinzenrolle gefällig? Zurück in meinem Zimmer habe ich eine Idee. Ich öffne das Fenster und lege mich darunter – auf ein sonnengeflutetes Eckchen meines Orientteppichs. Nach kurzer Zeit döse ich ein. Gar nicht mal so schlecht, dieses Homeoffice.

erkerMittagsschläfchen auf dem sonnigen Teppich – das Homeoffice bietet so manche Vorteile

20 Minuten später taumle ich zurück zum Schreibtisch. Meine Hände und Füße sind endlich warm, allerdings ist mir etwas schwummrig von der Sonne und dem ganzen Kaffee. Ich trinke ein Glas Wasser, dann geht es weiter.

Eine Stunde später sind Hände und Füße wieder kalt. Ich ziehe einen extra Pulli über. Dann gehe ich in die Küche, hole Kaffee und Prinzenrolle Nummer vier. Auf dem Rückweg lunze ich durch T.’s geöffnete Zimmertür. T., ebenfalls ins Homeoffice verbannt, scheint sich mit ähnlichen Problemen rumzuschlagen wie ich. Zumindest trägt er eine Mütze und hat die Decke aus dem Wohnzimmer eng um seinen Körper geschlungen. Jetzt ist er in einem schlangenförmigen Kokon vor seinem Schreibtisch gefangen.

Irgendwann ist es 19 Uhr. Beschwingt springe ich von meinem Stuhl und gehe in die Küche. Und jetzt? Hunger hab ich so gar nicht. Ich schlendere ziellos durch die Wohnung. Nach Feierabend fühlt sich das irgendwie nicht an. Das Gefühl, nach getaner Arbeit nach Hause zu kommen, die Trennung zwischen Büro und Wohnung – das fehlt. Ein Blick in T.’s Zimmer. Die Raupe sitzt immer noch eingepuppt vor dem Laptop.

Ich schlüpfe in meine Laufschuhe und gehe raus, eine Runde drehen. Die Straßen sind wie leergefegt. Nur ab und an kommen mir vereinzelte Gestalten entgegen, die – wie ich – an die äußere Kante des Gehwegs ausweichen oder sogar die Straßenseite wechseln. Ich jogge an beleuchteten Fenstern vorbei. Sehe Paare und Familien an Küchentischen sitzen. Ich denke an all die Frauen, die jetzt mit frustrierten, gewalttätigen Ehemännern zuhause festsitzen. An die Kinder, die in winzigen Wohnungen sitzen, eng an eng am Küchentisch lernen sollen, während ihre Eltern streiten. An die Menschen, die wegen des Virus arbeitslos sind. An die Depressiven, die psychisch Labilen, die jetzt womöglich in ein tiefes Loch fallen… Dankbarkeit durchströmt mich, während ich meine Schritte beschleunige. Wie gut ich es doch habe.

Eine Woche später: In der WG hat sich sowas wie Routine eingestellt. Wir kochen abends mehr und sorgen so für unsere Mittagspausen vor – oder holen was beim Italiener gegenüber. Beim Essen stehen wir nicht mehr orientierungslos rum, sondern setzen uns immer häufiger an den Tisch, ganz zivilisiert. Die Decken hängen standardmäßig über den Stuhllehnen – bereit für die Einkokonierung. Und wenn ich ein Kissen L-förmig auf meinen Stuhl lege, sitzt es sich recht bequem. Nur eine Sache will sich nicht normalisieren. Der Kaffeekonsum der WG verläuft wie die Verbreitung des Coronavirus: exponentiell nach oben.

Ode an die Brezel

Jetzt, in der häuslichen Isolation, haben wir Zeit zum Nachdenken. Über wichtige Dinge  wie unser Leben und was wir damit anfangen wollen zum Beispiel. Aber auch über vergleichsweise unwichtige Dinge wie Brezeln. Jüngst las ich in einem Gastrobuch über Stuttgart, dass man sich diesem Gebäck auch als zugezogene Stuttgarterin kaum entziehen könne. Die verwunderte Autorin schrieb, selbst im Kinderwagen sitzende Kleinkinder hätten ständig ein Stück Brezel in der Hand, an dem sie nuckelten. Als würde uns Schwaben die Liebe zum Laugengebäck auf diese Weise bereits in Kindheitstagen eingeimpft. Damit hat die gute Frau nicht ganz Unrecht.

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Doch die Brezel ist nicht zufällig so beliebt. Selbst Brezelhasser müssten bei klarem Verstand eigentlich erkennen, dass die Brezel Eigenschaften hat, die sie unvergleichlich machen. Fangen wir an mit dem Teig. Die Brezel besteht aus einem klassischen salzigen Hefeteig. Am Brezelbauch ist er nach dem Backen teigig-weich, an den Ärmchen etwas knackiger. In Kombination mit der braunen Laugenhülle und groben Salzkörnern entsteht der einzigartige Brezelgeschmack. (Wichtig ist dabei übrigens, dass das Mischverhältnis der Lauge stimmt – sie sollte weder zu stark (dunkelstbraun), noch zu schwach (blond-hellbraun) gemischt sein.) Der Brezelkenner weiß: Eine gute Brezel schmeckt auch in Natura grandios, zur Hochform läuft sie allerdings erst in ihrer Variation als Butterbrezel auf. Das Tolle an dieser Erfindung: Sie passt eigentlich immer. Ob zum Frühstück, als Snack zwischendurch – oder auch mal nachts um vier zum zwölften Bier. Durch ihre basische Ummantelung ist die Brezel übrigens nebst Zwieback der perfekte Snack, wenn man krank oder verkatert ist. Im zarten Lebensalter von ein, zwei Tagen – leicht angetrocknet – beruhigt sie jeden noch so übersäuerten Magen.

An dieser Stelle ein Beispiel: Ich habe zwei Jahre lang in Leipzig gelebt. In meiner Mittagspause ging ich an manchen Tagen in die Unimensa. An anderen Tagen wollte ich mir hingegen nur schnell eine Kleinigkeit beim Bäcker holen. Da ich nichts Süßes wollte, fiel meine Wahl dort meistens auf ein belegtes Brötchen. So weit, so gut. Doch die Sache hatte einen Haken. Erstens sind die meisten dieser belegten Brötchen vergleichsweise teuer. Man will eigentlich nur einen kleinen Snack einnehmen, ist dann aber schnell mal 4,70 Euro los. Da hätte man sich ja gleich einen Döner holen können! Die 4,70 Euro würde ich nichtsdestotrotz bereitwillig zahlen, gäbe es da nicht ein weiteres Problem: Die belegten Brötchen beim Bäcker schmecken leider oft schrecklich. Das liegt zum Großteil an der Remoulade, die gefühlt auf 90 Prozent aller belegten Brötchen pappt (was mich zu der Frage führt: Warum denn nur? Wer bitte, mag Remoulade? Vielleicht im Backfisch-, aber doch nicht im Käsebrötchen?!) Dazu kommt, dass der Belag dieser Brötchen auch nicht wirklich überzeugend ist. Oft ist viel zu viel drauf – und auch Dinge, die man erst im Nachhinein sieht. Wer kennt das nicht: Eigentlich will man nur ein Käsebrötchen essen. Widerwillig entscheidet man sich für ein Exemplar mit welker Salatblattgarnitur. Doch dann, beim Draufbeißen, quillt neben der Remoulade plötzlich auch noch eine Scheibe hartgekochten Eis aus dem Wecken. Gar nicht mal so lecker. Überhaupt ist es angesichts der erwähnten Ei-Remoulade-Flutsch-Problematik eher nicht so ratsam, ein derartiges Brötchen in Gesellschaft zu essen. Naja, spätestens jetzt sollte klar geworden sein, dass ich eher kein Fan von belegten Bäckerbrötchen bin. Also musste ich mir so manches Mal Alternativen suchen. Bloß, was? Ein Croissant? Ein trockenes Brötchen? Eine Apfeltasche? Also, ich weiß ja nicht. Ich jedenfalls sehnte mich in solchen Fällen nur nach einer: der schönen, altbewährten Butterbrezel. Die wiederum gibt es aber leider nicht überall. Gerade im Osten, an dem ich vieles sehr schätze, sucht man sie bisweilen vergeblich.

Einmal, bei einem Leipziger Bäcker, fragte ich, ob es denn zufällig auch Brezeln gebe (Weil nervige Spießerschwaben wie ich dort immer wieder nachgefragt haben, gibt es das mittlerweile ab und an… Ich bin übrigens Mitglied einer Facebookgruppe namens “Brezeln in Sachsen”). Ich hatte Glück, die Verkäuferin langte unter die Theke und holte eine Brezel hervor, allerdings – oh Schreck – nicht mit Salz drauf, sondern mit Kürbiskernen. (Hier stellt sich erneut die Frage: Warum?) Nachdem ich meinen ersten Schock überwunden hatte, fragte ich, ob sie mir vielleicht eine Butterbrezel schmieren könnte. Auch das ging überraschenderweise. Ich freute mich. Allerdings nur kurz, denn die versprochene Butter entpuppte sich dann als Margarine… Schade.

Davon abgesehen gilt: Brezel ist nicht gleich Brezel. Es gibt verschiedenste Ausführungen. Ein großer Unterschied besteht beispielsweise zwischen der bayerischen Breze und der schwäbischen Brezel (die richtige Aussprache ist “Bräzzl”). Bei der Breze verteilt sich der Teig gleichmäßiger, der Unterschied zwischen Bauch und Ärmchen ist also nicht so groß wie bei der schwäbischen. Die Breze ist mit viel Salz bestreut, außen eher dunkel und knusprig, innen eher weich und fluffig. Ihre schwäbische Schwester ist innen oft cremiger, dafür aber meist nur an den Ärmchen knusprig. Ich persönlich mag die schwäbische Brezel lieber, aber da scheiden sich die Geister. Streit gibt es auch häufig bei der Frage, wo bei der Brezel oben und unten ist. Ist aber ja eigentlich ziemlich egal, so lange es schmeckt (in meinem Kopf ist das dicke Stück unten).

Brezeln kann man übrigens auch selbst backen. Ein guter Zeitvertreib für die Corona-Krise. Sie schmecken dann allerdings anders als beim Bäcker. Das ist so ähnlich wie selbstgemachte Pizza und Pizza beim Italiener. Beides gut, aber eben nicht dasselbe. Der Vorteil am Selberbacken: Man kann den Teig beliebig formen (zum Beispiel zu einem Diplodocus, der lange Hals wird im Ofen richtig schön knusprig!).

In diesem Sinne: Wohl bekomm’s!

Schockstarre

Es ist immer noch unfassbar. Noch vor wenigen Tagen war alles wie gewohnt. Gerade unsere Generation, die wir so sorgenfrei aufgewachsen sind, lebte bisher in einer Blase. Krieg, zumindest bei uns, nahmen wir naiverweise als etwas wahr, das schon lange vorbei ist. Als etwas, aus dem die Deutschen gelernt haben und das sich deshalb, zumindest bei uns, nicht wiederholen wird. Lange Zeit schien es nichts zu geben, über das man sich hätte beklagen, das man hätte anprangern können. Zumindest nicht, wenn man im gehobenen Mittelstand der 90er-Jahre in Süddeutschland aufgewachsen war. Manchmal war das fast ein bisschen langweilig – und stets eine Luxussituation. Die 68er, rebellierende junge Menschen, die aufbegehrten, hinterfragten, die konservative Kriegsgeneration zur Rede stellten… all diese Bilder und Geschichten muteten an wie aus einer anderen Zeit, wie ein Hippie-Märchen, nach dem wir uns heimlich ein bisschen sehnten. Wogegen soll ich denn protestieren?, fragte ich mich so manches Mal. Wir sind mit dem Gefühl aufgewachsen, behütet zu sein, uns frei entfalten zu können. Die Möglichkeiten schienen endlos. Auch unsere Eltern waren für die meisten von uns eher Freund als Feind, gegen den es sich zu rebellieren lohnte.

Irgendwann begann sich, schleichend, etwas zu ändern. Angefangen hatte es wahrscheinlich schon mit 9/11, doch selbst das war für viele Deutsche immer noch weit weg. Vielleicht war es der Aufstieg rechter Gruppierungen in Europa, auch die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten – und die Klimakrise. Es wurde nach und nach ungemütlicher. Dinge, die wir nicht für möglich gehalten hätten, geschahen einfach. Rechtsextreme Bewegungen wie Pegida und Legida gaben uns Grund, auf die Straße zu gehen. Die Sorge wegen des Klimawandels mobilisierte schließlich auch die breite Masse. Ärger und Schreck, ja. Dass etwas wirklich Schlimmes geschehen könnte  – eine Katastrophe – blieb trotz alldem abstrakt, surreal.

Bis zur Corona-Krise. Innerhalb weniger Tage hat sich der Alltag grundlegend gewandelt. Läden, Cafés, Restaurants sind geschlossen. Menschen mit Bürojobs wurden ins Homeoffice verbannt. Beschränkungen für das öffentliche Leben erlassen. So etwas gab es noch nie. Wir telefonieren mit Freunden, sprechen  darüber, wie krass alles ist. Ein bisschen Sensationsgier schwingt mit. Was wird noch geschehen, wie drastisch wird unser Leben eingeschränkt werden? Wie lange wird all das dauern? Auf der anderen Seite der Schock darüber, dass die Situation real ist, dass etwas Schlimmes, Gravierendes geschieht. Jetzt. Bei uns. In echt. Es folgt ein Gefühl der Ungewissheit. Furcht vor der Einsamkeit. Wie lange wird all das dauern? Und noch etwas ist da, diffus, doch schwer zu ignorieren: Angst. Um unsere Lieben. Sind alle stark genug? Vorstellungen, die wir schnell wieder aus unseren Köpfen drängen.

Es ist wie bei einem Unfall. Wer jahrelang unbeschadet und ohne größere Einschnitte durchs Leben geht, bei dem stellt sich nach einer Weile ein Gefühl des Sicherseins ein. Das ist gut so. Würden wir unser Leben in Panik verbringen, wäre es vermutlich kurz, weil unsere Körper irgendwann unter dem vielen Stress zusammenbrächen. Doch dieses Gefühl des Sicherseins fällt jäh in sich zusammen, sobald etwas geschieht – ein Unfall zum Beispiel. Plötzlich sind wir uns unserer Endlichkeit bewusst, der Tod ist ganz nah. Plötzlich haben wir Angst, sind unsicher, vorsichtiger, wenn wir Auto fahren oder die Straße überqueren. Doch nach einiger Zeit – manchmal sind es Tage, manchmal Jahre  – weicht der Schreck nach und nach. Und das Gefühl der Sicherheit schleicht sich wieder ein. So ist es auch mit Corona. Noch verharren wir in Schockstarre. Doch was wird in ein paar Wochen oder Monaten sein? Wenn die Ausgangssperre immer noch intakt ist – wird sie ein Stück weit Normalität sein? Werden wir sie dann weniger ernst nehmen?  Und wenn alles vorbei ist: Werden wir unsere Lehren aus der Krise ziehen? Oder weitermachen wie gehabt?

Das Gruselzimmer

Ein Tierschädel auf einem Stock, im Hintergrund ein Jesusbild – kann man sich einen schöneren Anblick beim Aufwachen vorstellen? Das Mädchen, das mir sein Hamburger WG-Zimmer für die vergangenen zwei Monate zur Zwischenmiete überlassen hat, anscheinend nicht.

Ein Samstag Ende Juli: Als ich das Zimmer zum ersten Mal betrete, muss ich niesen. Alle Möbelstücke sind mit zwei Decken bedeckt –einer aus Stoff und einer (sehr viel dickeren) aus Staub. Das Zimmer habe ich zuvor nur auf wenig aussagekräftigen Fotos gesehen, was ich aber nicht weiter schlimm fand. „Ist ja auch nur für die zwei Monate Praktikum“, denke ich, als ich meine Taschen abstelle. Auf dem Tisch ein Zettel von meiner Vermieterin. Sie habe eine Schublade für meine Klamotten freigeräumt, steht da. Ich freue mich, aber nur kurz, dann lese ich weiter: Es handelt sich um eine Schreibtischschublade. Naja, immerhin meine Socken haben jetzt ein Plätzchen. Die restlichen Klamotten verteile ich zwischen den zahlreichen Deko-Gegenständen.

Traumfänger mit Fotos von nebelverhangenden Wäldern

Als ich in meiner ersten Nacht im neuen Bett eindöse, fällt plötzlich etwas auf mich. Ich erschrecke und knipse die Kürbislampe an. Der Unruhestifter ist ein Stock, aber nicht der Tierschädelstock, sondern ein anderer, der ebenfalls neben dem Bett steht und den ich beim Umdrehen wohl irgendwie aus der Balance gebracht habe. Der Stock erinnert mich an die DEFA-Verfilmung von „Schneeweißchen und Rosenrot“, die mir als Kind Alpträume bescherte: Darin hat der böse Bergtroll einen Zauberstock, mit dem er einen Stollen zum Einsturz bringt.

Als ich die anderen Dekorationen in Bettnähe genauer betrachte, stellen sich mir die Nackenhaare auf: Über meinem Kopf ist ein vergilbtes Moskitonetz befestigt, das mich im Halbdunkel an ein Spinnennetz erinnert, am Fußende des Bettes hängt ein Traumfänger, an dem Fotos von nebelverhangenen Wäldern baumeln, gleich dahinter der Tierschädel und dann ist da noch dieses düstere Bild an der Tür, auf dem offensichtlich gerade jemand stirbt. Plötzlich steigt der Bergtroll durch das Spinnennetz, reist mir den Stock aus der Hand und zerrt mich unter der Decke hervor. „Du musst abstauben“, kreischt er und schleift mich zu dem Toten. Dann klopft er mit dem Stock auf den Boden und lacht gehässig, während über uns die Decke einstürzt. Ich schreie und wache auf.

Postkarte mit Friedhof

Als das Ende meines Praktikums näher rückt, habe ich mich zwar längst mit meiner neuen Bleibe arrangiert, freue mich aber trotzdem schon wieder auf mein eigenes Zimmer. Eines Tages kommt eine Postkarte – für meine Vermieterin, von ihren Eltern aus dem Urlaub. Vorne ist eine Art Friedhof mit gruseligen Skulpturen abgebildet. Die Eltern haben hinten draufgeschrieben: „Irgendwie mussten wir hier an dich denken.“

erschienen bei der Leipziger Zeitung, lvz.de, am 30. September 2016

Rumänien

Die Rumänen im Minibus reden über mich. Eine ältere Frau mit roten Locken dreht sich immer wieder zu mir um und redet mit wild gestikulierenden Händen auf den Fahrer ein, der daraufhin etwas zurückbrüllt.  “Sie verstehen nicht, was ein junges Mädchen wie du in unserem Land macht. Du fährst auf eine Farm, die du nur aus dem Internet kennst??! Warum?”, dolmetscht meine rumänische Freundin Camilla. Als ich in Cluj aussteige, haben es die anderen geschafft, mir ein ungutes Gefühl einzujagen. Ist diese Reise eine Nummer zu groß für mich?

Nach drei Monaten zu Hause sind mein Deuter und ich wieder vereint. Anfang Oktober geht mein Studium in Leipzig los und ich möchte meine freie Zeit noch nutzen. Deshalb habe ich spontan beschlossen, Chris zu besuchen. Chris ist ein Freund aus Ulm, der im April von Freiburg aus in Richtung Indien losgeradelt ist. Im August war er bis ins südliche Ungarn gekommen und wir beschlossen, uns auf einer Farm in Transsilvanien, Rumänien, zu treffen…

Die Anreise

Schon im Fernbus (150 Euronen für Ulm – Cluj Napoca und vice versa) kann man nicht überhören, wohin die Fahrt geht. Um mich herum sprechen alle rumänisch. Ich fühle mich fremd, selbst als wir noch in Deutschland sind. Alle paar Stunden machen wir Pause, doch ich habe keinen blassen Schimmer, wie lange, die nett gemeinten Durchsagen des Busfahreres sind nämlich auch auf rumänisch. Nach etwa 18 Stunden kommen wir endlich in Sebes an, wo ich umsteigen muss. Außer mir steigen noch zwei andere Frauen aus. Es stellt sich heraus, dass unser Bus nach Cluj zwei Stunden später kommt als geplant, wir müssen vier Stunden lang warten. In der Wartehalle von Sebes, das man “Sebesch” ausspricht, ist es drückend heiß.

Es stellt sich heraus, dass eine der wartenden Frauen deutsch spricht. Camilla erzählt, dass sie seit acht Jahren in Deutschland arbeitet und derzeit eine Ausbildung zur Fitnessfachwirtin macht. “Magst du Rumänien?”, fragt sie mich. “Ich weiß es noch nicht, ich war ja noch nie hier!” – “Es wundert mich, dass irgendjemand hier her kommt, um Urlaub zu machen. Ich mag Rumänien überhaupt nicht, aber ich LIEBE Deutschland.” Als ich nachhake, erzählt Camilla, dass in Rumänien einfach nichts klappe, da es so etwas wie Disziplin und Pünktlichkeit nicht gebe. Das seien für sie auch die Hauptgründe gewesen, nach Deutschland auszuwandern. Während Camilla und ich in der rumänischen Wartehalle sitzen, flüchten zahlreiche Menschen nach Deutschland. Es ist der Herbst 2015, der als Beginn der sogenannten Flüchtlingskrise in die EU-Geschichte eingehen wird. Aus aktuellem Anlass sprechen wir auch darüber. Camilla vertritt eine ziemlich rechte Position. “Ich arbeite hart in Deutschland. Ich will nicht, dass irgendwelche Ausländer einfach so Asyl kriegen.”

Einige Minuten später endet die Warterei unerwartet: Ein Mann kann uns mitnehmen, in dem bereits erwähnten Minibus …

Dementsprechend bin ich ziemlich froh, als ich endlich heil auf der Farm ankomme. Chris ist lustigerweise nur fünf Minuten vor mir auf den Hof geradelt.
Wir werden dann gleich von der Familie und den anderen Volunteers in Empfang genommen.

Die Familie
Assia aus Holland, Peter, Ulrike und ihre Kinder Lachi und Chippi aus Österreich.

Die Volunteers
Ari(ane) aus Kanada, Muriel aus Chile, Colum aus Schottland, Jessica aus Kalifornien, Dominik aus München, Mikesh aus Neuseeland, Louis aus Spanien und Justin aus Australien (den wir aufgrund seines toughen Auftretens jedoch bald nur noch Brad Jetlag nennen).

Die Farm
Ein großes Gelände auf einem Hügel gelegen, mit atemberaubendem Ausblick auf die transsilvanische Hügellandschaft, ein großes Haus und mehrere Scheunen. Wir Volunteers übernachten auf Scheunenböden, Essen gibt es im Haus oder draußen. Es gibt verschiedene Obstbäume, einen Gemüsegarten, Ziegen, Esel und Pferde.

Alltag auf der Farm

Abends essen alles zusammen in einer Art Gartenlaube, Ulrikes Essen schmeckt großartig. Anschließend sitzen wir noch eine Weile auf der Terrasse zusammen und trinken Bier aus 2,5-Liter-Plastikflaschen(!).
Als ich am nächsten Morgen zu unserem Scheunenluke hinaussehe, bin ich verzaubert: Unser Schlafplatz, der Heuboden, liegt etwa vier Meter hoch (man kommt nur mit einer Leiter hinauf) und bietet eine Wahnsinnsaussicht auf die Landschaft. Ich fühle mich ein bisschen wie Heidi. Um 7.30 Uhr gibt es ein reichhaltiges Frühstück in Ulrikes Küche, dann beginnen wir mit der Arbeit. Wir arbeiten an zwei organischen Häusern, die hauptsächlich aus Stroh und Lehm bestehen und sich ebenfalls auf dem Farmgrundstück befinden. Konkret besteht unsere Tätigkeit an diesem ersten Tag darin, unzählige Strohballen aus einem Haus in das andere zu transportieren. Was als unbeschwerter Spaß anfängt (ich werfe lässig Ballen auf einen Anhänger), entpuppt sich 40 Ballen später als schweißtreibende Angelegenheit (ich schleife einen Ballen über den Boden). Später stopfen wir noch die Böden mit Stroh aus. Dann ist der erste Arbeitstag auch schon beendet. In den kommenden Tagen verändern sich unsere Aufgaben ein wenig. Wir arbeiten nun vor allem an den Außenwänden, bringen Stacheldraht an und verputzen mit Lehm. Die Anweisungen geben uns rumänische Fachkräfte, mit denen wir uns schnell anfreunden. Es spricht zwar fast keiner Englisch oder Deutsch, aber wir verständigen uns erstaunlich gut mit Händen und Füßen.

In unserer Freizeit trinken wir Kaffee, sonnen uns, spielen Karten und mit Lachi und Chippi oder unterhalten uns mit der Familie und den anderen Volunteers… Die Atmosphäre ist sehr herzlich und ich fühle mich schnell wohl. Wenn wir von der Farm genug bekommen, erkunden wir die Umgebung. Mehrmals fahren wir mit dem Auto durch die schlaglochreiche Gegend. Viele Straßen sind ungeteert. Wir sehen Dörfer, in denen sich Traubenreben um verfallene Gemäuer ranken, Kühe und Pferdekutschen auf den Straßen unterwegs sind, Bauersfrauen mit Kopftüchern und weiten Röcken umher schlurfen und uns zuwinken… Für deutsche Verhältnisse ist Transsilvanien rückständig und es gibt mit Sicherheit einige Rumänen, die sich mehr Luxus wünschen würden. Doch gerade das Einfache entfaltet unvergleichlichen Charme. Und die Natur ist wunderschön.

Der Wochenendtrip

An einem Wochenende trampen Chris, Ari, Mikesh und ich Richtung Norden, in die Region Maramuresh. Dort soll Rumänien noch sehr ursprünglich und traditionell sein. Am ersten Tag kommen wir leider nicht bis an unser Ziel, was daran liegt, dass wir erstens viel zu spät aufbrechen (Der Abend zuvor in Cluj artete etwas aus. Manche tanzten bis in den Morgengrauen, andere stahlen sich zu zweit davon und Brad Jetlag verschwand spurlos mit einer Frau) und zweitens zu viert sind (Trampen zu viert ist scheiße). Gegen 20 Uhr stehen wir vom Regen durchnässt an einer Tankstelle und bereiten uns darauf vor, in Mikeshs Ein-Mann-Zelt mit insgesamt zwei Schlafsäcken zu übernachten… als endlich ein Wagen neben uns hält. Ein Mann und sein Sohn bringen uns zwar nicht zum Ziel, aber immerhin bis zu einer Pension. Juhu!

Am nächsten Morgen haben wir mehr Glück. Chris und ich werden gleich von zwei freundlichen jungen Rumänen mitgenommen, die in England arbeiten und nun ihre Familien besuchen (sehr viele junge Rumänen verlassen ihre Heimat; ein großes Problem für das Land). Schwupps, sind wir auch schon in Breb, unserem Zielort. Dort trinken wir erstmal Kaffee und sehen uns im Dorf um. Zufällig ist Sonntag und die Einwohner scheinen auf dem Weg zur Kirche zu sein – sehr zu unserer Freude, denn alle sind traditionell gekleidet und sehr schön anzusehen. Als Ari und Mikesh eintrudeln, trinken Chris und ich gerade Tee im Garten einer holländischen Familie, die ein kleines Hostel betreibt und uns von Peter und Ulrike empfohlen wurde. Mitterweile ist es Mittag und alle haben Hunger. Die Besitzerin unseres Hostels empfiehlt uns eine Frau namens Maria… Maria wohnt gleich nebenan und kocht leidenschaftlich gerne. Als sie uns in ihren Hof trotten sieht, lacht sie auf und winkt uns in ihre Gartenlaube. Wenige Minuten später stehen zwei große Flaschen Palinka, das ist der lokale Schnaps, Brot, Ziegenkäse, Schinken, Paprika, Tomaten, Zwiebeln und Gurken auf dem Tisch – alles aus eigener Herstellung. Wir sind begeistert und stürzen uns auf das Essen. Maria steht währenddessen am Tischende, tätschelt Ari und mir die Rücken und lacht ununterbrochen. “Bun?”, fragt Maria. “Daaa, buuun”, antworten wir mit vollen Mündern (“Jaaa, guuut”)… Nach dem Essen sind wir vollgefressen und angedudelt vom Palinka. Wir machen eine kleine Wanderung durch Breb und Umgebung. Zum Ausnüchtern kommen wir allerdings erst gar nicht, denn unterwegs werden wir mehrmals von Einheimischen angesprochen und zu weiteren Palinkarunden eingeladen. Ein Besuch des Dorfes Breb ist also durchaus empfehlenswert – vor allem für diejenigen, die eine robuste Leber haben.

 

Die Rückreise

Nach unserem Wochenendausflug muss ich auch schon wieder zurück nach Deutschland. Schweren Herzens verabschiede ich mich von Chris, den anderen Volunteers und der Familie… Die Rückfahrt verläuft nicht minder anstrengend als die Hinfahrt. Dieses Mal fühle ich mich zwar nicht mehr fremd, denn die Rumänen sind mir in den zwei Wochen näher gekommen, dafür sitze ich aber neben einem stark schwitzenden Mann und vor drei kleinen Kindern, die fast ununterbrochen schreien und an meinem Sitz rütteln. Auch die Grenzüberquerung nach Ungarn ist stressreich. Wenige Wochen vorher hat Ungarn seine Grenzen verriegelt, um sich vor Flüchtlingen zu schützen. Nun nehmen sich die Grenzbeamten ausgiebig Zeit, unseren Bus zu inspizieren (denken sie, dass da Flüchtlinge versteckt sind?) und wir können die Grenzlinie erst nach eineinhalb Stunden Warterei passieren. Immerhin sitzt vor mir ein schwäbisches Pärchen, das mich mit Essen und versorgt. So fühle ich mich gut aufgehoben.

Als wir nach knapp 30 Stunden Fahrt in Ulm einrollen, bin ich dennoch erleichtert. Nächstes Mal werde ich definitiv fliegen!

Dschungelgeschichte

“Ich hab Angst”, sage ich zu Sandra, als wir durch das knietiefe Amazonaswasser waten. Immer wieder stoße ich auf Widerstand unter Wasser und erschrecke; zum Glück sind es Wurzeln und keine Anacondas oder Caimane (zumindest rede ich mir das ein). Ein paar Meter weiter wird der Tümpel so tief, dass wir schwimmen müssen – gar nicht so leicht, ohne die Gummistiefel an den Füßen zu verlieren. “Nur mit den Vorderbeinen schwimmen!”, rufe ich Sandra zu. Mein gut gemeinter Rat geht nach hinten los, denn Sandra geht vor Lachen fast unter. Als ich merke, was ich gesagt hab, lache ich mit, hysterisch. Was um alles in der Welt machen wir hier??!

Zwei Tage zuvor:

Unsere Amazonastour beginnt schon etwas gruselig. Wir fahren mit dem Nachtbus von Quito nach Lago Agrio. Ich schlafe schlecht. Der Bus holpert mehrmals über ungeteerte Straßenstücke und hält anschließend für mehrere Minuten an grell beleuchteten Orten an. Kommentar Sandra: “Wenn in Ecuador mit Organen gehandelt wird, dann hier.”

Wir kommen dann aber mit allen Organen in Lago Agrio an – eine Stadt, die ich den Produzenten von “Anaconda” von Herzen als Drehort für den nächsten Eingangstrailer nahelege (grau, regnerisch-windig, unheimlich!!).

Kurze Zeit später steigen wir auf ein Motorboot um. Jetzt wird unser Trip richtig schön, denn die Fahrt zu unserem Camp ist der Wahnsinn, dieses Mal im positiven Sinne. Wir fahren durch dichten Dschungel und halten immer wieder an, um Tiere zu beobachten. Wir sehen Affen, Faultiere, Caimane, Anacondas, Papageien, bunte Schmetterlinge… Unglaublich schön! Abends baden wir in einer breiten Stelle des Flusses. Irgendwie ist allen mulmig zumute, doch David, unser Guide, beruhigt uns. “I`ve got a rule: As long as the water level is higher than 1,5 meters, it is save. If it`s lower, it could get dangerous. I would never swim there.”

Am dritten Tag fährt uns unser Fahrer Manuko mit dem Boot zu einer Stelle, von der aus wir eine Wanderung machen wollen. Diese Mal haben wir gleich zwei Guides. Neben David soll Louis, ein Einheimischer, dafür sorgen, dass wir uns nicht verlaufen. “I don`t know this hike, that`s why Louis is coming with us”, erklärt David.

Die Wanderung beginnt mit dem üblichen Procedere: Wandern, Tiere beobachten, weiter wandern, noch mehr Tiere beobachten. Nach einer Weile finden wir ein Caiman-Nest. Es liegen Eierschalen und Anacondareste herum. David klärt uns auf: Caimane seien eigentlich total ungefährlich, außer wenn sie Nachwuchs hätten. Dann sei mit den Tieren nicht zu spaßen – wie mit unserem Caiman, der offensichtlich eine Anaconda getötet habe. Ah ja!

Komisch finde ich auch, dass wir immer wieder stehen bleiben und warten, während Louis vorgeht und den Weg erkundet. Nach einer dieser Erkundungstouren meint Louis, er habe zwar den richtigen Weg gefunden, allerdings seien Teile der Strecke überschwemmt, sodass wir durch das Wasser waten müssten und eventuell nasse Füße bekommen würden. Alle sind wenig begeistert von der Idee. Schließlich stehen wir aber doch an besagter Stelle und es stellt sich heraus, dass wir nicht nur waten, sondern auch schwimmen müssen, um den Tümpel zu durchqueren. Und was ist mit der 1,5-Meter-Regel??! David scheint`s nicht zu kümmern. “We will do this, come on guys”, ruft er ungeduldig, schnappt sich unsere Rucksäcke und watet mit ihnen durch den Tümpel. Er scheint völlig durchgedreht zu sein. So kommt es, dass wir mit unseren Vorderbeinen durch den Amazonas schwimmen…

Als unsere Gruppe auf der anderen Seite ankommt – gesund, patschnass und voller Adrenalin – sind alle erleichtert. Wir leeren gerade das Wasser aus den Gummistiefeln, als Louis zwischen zwei Bäumen auftaucht und verkündet, wir müssten wieder umdrehen, da ein paar Meter weiter eine viel breitere Wasserstelle warte, die wir unmöglich durchqueren könnten. Wir schauen uns fassungslos an. Dazu fällt uns nichts mehr ein.

Wir durchschwimmen also zum zweiten Mal – dieses Mal stinksauer – diesen trüben Tümpel, in dem ich immer noch Anacondas vermute… Wieder geht alles gut. Puh.

Um 13.30 Uhr sind wir wieder am Ausgangspunkt unserer Wanderung und warten auf Manuko. David hat ihn beauftragt, uns abzuholen, falls wir zu der Uhrzeit nicht in der Lodge sein sollten.

Doch Manuko kommt nicht. Weder um 13.30, noch um 14 Uhr, noch um 14.30 Uhr.

Es stellt sich heraus, dass wir keine Möglichkeit haben, mit der Lodge Kontakt aufzunehmen. Alle sind besorgt.

14.15 Uhr: David sammelt Brennholz und versucht vergeblich ein Feuer zu entfachen. Wir anderen sitzen auf einem Baumstamm, warten und warten auf Manuko, während wir in unseren nassen Klamotten bibbern und von Moskitos attackiert werden.

Um 15 Uhr beginnen wir Wetten abzuschließen: Wann holt uns Manuko ab? Wann setzt der Überlebensinstinkt ein? Wie lange überleben wir hier?

Gegen 15.30 Uhr sehe ich, dass David jetzt größere Holzstücke zusammenträgt. Louis und er, erklärt er, würden ein Ein-Mann-Floß bauen, mit dem er dann zur Lodge paddeln und Hilfe holen würde. Zum gefühlt 100sten Mal an diesem Tag schauen Sandra und ich uns fassungslos an… und lachen zum zweiten Mal los, von der Absurdität dieser Situation überwältigt…

… als plötzlich ein wohlbekanntes Knattern den Dschungellärm durchbricht: Manukos Motorboot!!! Die Erleichterung ist grenzenlos. Louis taucht plötzlich wieder aus dem Wald auf, David lässt seine Holzsammlung zurück und alle rennen euphorisch zum Boot.

Eine Stunde später sitzt unsere Gruppe wieder in der Lodge, die Mägen gefüllt mit aufgewärmtem Lunch und Caipirinha, den David uns als Entschädigung ausgegeben hat. Jetzt – wo alle sicher am Tisch sitzen – gibt unser Guide zu, dass die Flussdurchquerung tatsächlich sehr gefährlich gewesen sei, er aber keine andere Lösung gesehen habe. Aha, gut zu wissen. Eins steht jedenfalls fest: Unserem Motto “Extreme Traveling” haben wir wieder mal alle Ehre gemacht.