Die Rumänen im Minibus reden über mich. Eine ältere Frau mit roten Locken dreht sich immer wieder zu mir um und redet mit wild gestikulierenden Händen auf den Fahrer ein, der daraufhin etwas zurückbrüllt. “Sie verstehen nicht, was ein junges Mädchen wie du in unserem Land macht. Du fährst auf eine Farm, die du nur aus dem Internet kennst??! Warum?”, dolmetscht meine rumänische Freundin Camilla. Als ich in Cluj aussteige, haben es die anderen geschafft, mir ein ungutes Gefühl einzujagen. Ist diese Reise eine Nummer zu groß für mich?
Nach drei Monaten zu Hause sind mein Deuter und ich wieder vereint. Anfang Oktober geht mein Studium in Leipzig los und ich möchte meine freie Zeit noch nutzen. Deshalb habe ich spontan beschlossen, Chris zu besuchen. Chris ist ein Freund aus Ulm, der im April von Freiburg aus in Richtung Indien losgeradelt ist. Im August war er bis ins südliche Ungarn gekommen und wir beschlossen, uns auf einer Farm in Transsilvanien, Rumänien, zu treffen…
Die Anreise
Schon im Fernbus (150 Euronen für Ulm – Cluj Napoca und vice versa) kann man nicht überhören, wohin die Fahrt geht. Um mich herum sprechen alle rumänisch. Ich fühle mich fremd, selbst als wir noch in Deutschland sind. Alle paar Stunden machen wir Pause, doch ich habe keinen blassen Schimmer, wie lange, die nett gemeinten Durchsagen des Busfahreres sind nämlich auch auf rumänisch. Nach etwa 18 Stunden kommen wir endlich in Sebes an, wo ich umsteigen muss. Außer mir steigen noch zwei andere Frauen aus. Es stellt sich heraus, dass unser Bus nach Cluj zwei Stunden später kommt als geplant, wir müssen vier Stunden lang warten. In der Wartehalle von Sebes, das man “Sebesch” ausspricht, ist es drückend heiß.
Es stellt sich heraus, dass eine der wartenden Frauen deutsch spricht. Camilla erzählt, dass sie seit acht Jahren in Deutschland arbeitet und derzeit eine Ausbildung zur Fitnessfachwirtin macht. “Magst du Rumänien?”, fragt sie mich. “Ich weiß es noch nicht, ich war ja noch nie hier!” – “Es wundert mich, dass irgendjemand hier her kommt, um Urlaub zu machen. Ich mag Rumänien überhaupt nicht, aber ich LIEBE Deutschland.” Als ich nachhake, erzählt Camilla, dass in Rumänien einfach nichts klappe, da es so etwas wie Disziplin und Pünktlichkeit nicht gebe. Das seien für sie auch die Hauptgründe gewesen, nach Deutschland auszuwandern. Während Camilla und ich in der rumänischen Wartehalle sitzen, flüchten zahlreiche Menschen nach Deutschland. Es ist der Herbst 2015, der als Beginn der sogenannten Flüchtlingskrise in die EU-Geschichte eingehen wird. Aus aktuellem Anlass sprechen wir auch darüber. Camilla vertritt eine ziemlich rechte Position. “Ich arbeite hart in Deutschland. Ich will nicht, dass irgendwelche Ausländer einfach so Asyl kriegen.”
Einige Minuten später endet die Warterei unerwartet: Ein Mann kann uns mitnehmen, in dem bereits erwähnten Minibus …
Dementsprechend bin ich ziemlich froh, als ich endlich heil auf der Farm ankomme. Chris ist lustigerweise nur fünf Minuten vor mir auf den Hof geradelt.
Wir werden dann gleich von der Familie und den anderen Volunteers in Empfang genommen.
Die Familie
Assia aus Holland, Peter, Ulrike und ihre Kinder Lachi und Chippi aus Österreich.
Die Volunteers
Ari(ane) aus Kanada, Muriel aus Chile, Colum aus Schottland, Jessica aus Kalifornien, Dominik aus München, Mikesh aus Neuseeland, Louis aus Spanien und Justin aus Australien (den wir aufgrund seines toughen Auftretens jedoch bald nur noch Brad Jetlag nennen).
Die Farm
Ein großes Gelände auf einem Hügel gelegen, mit atemberaubendem Ausblick auf die transsilvanische Hügellandschaft, ein großes Haus und mehrere Scheunen. Wir Volunteers übernachten auf Scheunenböden, Essen gibt es im Haus oder draußen. Es gibt verschiedene Obstbäume, einen Gemüsegarten, Ziegen, Esel und Pferde.
Alltag auf der Farm
Abends essen alles zusammen in einer Art Gartenlaube, Ulrikes Essen schmeckt großartig. Anschließend sitzen wir noch eine Weile auf der Terrasse zusammen und trinken Bier aus 2,5-Liter-Plastikflaschen(!).
Als ich am nächsten Morgen zu unserem Scheunenluke hinaussehe, bin ich verzaubert: Unser Schlafplatz, der Heuboden, liegt etwa vier Meter hoch (man kommt nur mit einer Leiter hinauf) und bietet eine Wahnsinnsaussicht auf die Landschaft. Ich fühle mich ein bisschen wie Heidi. Um 7.30 Uhr gibt es ein reichhaltiges Frühstück in Ulrikes Küche, dann beginnen wir mit der Arbeit. Wir arbeiten an zwei organischen Häusern, die hauptsächlich aus Stroh und Lehm bestehen und sich ebenfalls auf dem Farmgrundstück befinden. Konkret besteht unsere Tätigkeit an diesem ersten Tag darin, unzählige Strohballen aus einem Haus in das andere zu transportieren. Was als unbeschwerter Spaß anfängt (ich werfe lässig Ballen auf einen Anhänger), entpuppt sich 40 Ballen später als schweißtreibende Angelegenheit (ich schleife einen Ballen über den Boden). Später stopfen wir noch die Böden mit Stroh aus. Dann ist der erste Arbeitstag auch schon beendet. In den kommenden Tagen verändern sich unsere Aufgaben ein wenig. Wir arbeiten nun vor allem an den Außenwänden, bringen Stacheldraht an und verputzen mit Lehm. Die Anweisungen geben uns rumänische Fachkräfte, mit denen wir uns schnell anfreunden. Es spricht zwar fast keiner Englisch oder Deutsch, aber wir verständigen uns erstaunlich gut mit Händen und Füßen.
In unserer Freizeit trinken wir Kaffee, sonnen uns, spielen Karten und mit Lachi und Chippi oder unterhalten uns mit der Familie und den anderen Volunteers… Die Atmosphäre ist sehr herzlich und ich fühle mich schnell wohl. Wenn wir von der Farm genug bekommen, erkunden wir die Umgebung. Mehrmals fahren wir mit dem Auto durch die schlaglochreiche Gegend. Viele Straßen sind ungeteert. Wir sehen Dörfer, in denen sich Traubenreben um verfallene Gemäuer ranken, Kühe und Pferdekutschen auf den Straßen unterwegs sind, Bauersfrauen mit Kopftüchern und weiten Röcken umher schlurfen und uns zuwinken… Für deutsche Verhältnisse ist Transsilvanien rückständig und es gibt mit Sicherheit einige Rumänen, die sich mehr Luxus wünschen würden. Doch gerade das Einfache entfaltet unvergleichlichen Charme. Und die Natur ist wunderschön.
Der Wochenendtrip
An einem Wochenende trampen Chris, Ari, Mikesh und ich Richtung Norden, in die Region Maramuresh. Dort soll Rumänien noch sehr ursprünglich und traditionell sein. Am ersten Tag kommen wir leider nicht bis an unser Ziel, was daran liegt, dass wir erstens viel zu spät aufbrechen (Der Abend zuvor in Cluj artete etwas aus. Manche tanzten bis in den Morgengrauen, andere stahlen sich zu zweit davon und Brad Jetlag verschwand spurlos mit einer Frau) und zweitens zu viert sind (Trampen zu viert ist scheiße). Gegen 20 Uhr stehen wir vom Regen durchnässt an einer Tankstelle und bereiten uns darauf vor, in Mikeshs Ein-Mann-Zelt mit insgesamt zwei Schlafsäcken zu übernachten… als endlich ein Wagen neben uns hält. Ein Mann und sein Sohn bringen uns zwar nicht zum Ziel, aber immerhin bis zu einer Pension. Juhu!
Am nächsten Morgen haben wir mehr Glück. Chris und ich werden gleich von zwei freundlichen jungen Rumänen mitgenommen, die in England arbeiten und nun ihre Familien besuchen (sehr viele junge Rumänen verlassen ihre Heimat; ein großes Problem für das Land). Schwupps, sind wir auch schon in Breb, unserem Zielort. Dort trinken wir erstmal Kaffee und sehen uns im Dorf um. Zufällig ist Sonntag und die Einwohner scheinen auf dem Weg zur Kirche zu sein – sehr zu unserer Freude, denn alle sind traditionell gekleidet und sehr schön anzusehen. Als Ari und Mikesh eintrudeln, trinken Chris und ich gerade Tee im Garten einer holländischen Familie, die ein kleines Hostel betreibt und uns von Peter und Ulrike empfohlen wurde. Mitterweile ist es Mittag und alle haben Hunger. Die Besitzerin unseres Hostels empfiehlt uns eine Frau namens Maria… Maria wohnt gleich nebenan und kocht leidenschaftlich gerne. Als sie uns in ihren Hof trotten sieht, lacht sie auf und winkt uns in ihre Gartenlaube. Wenige Minuten später stehen zwei große Flaschen Palinka, das ist der lokale Schnaps, Brot, Ziegenkäse, Schinken, Paprika, Tomaten, Zwiebeln und Gurken auf dem Tisch – alles aus eigener Herstellung. Wir sind begeistert und stürzen uns auf das Essen. Maria steht währenddessen am Tischende, tätschelt Ari und mir die Rücken und lacht ununterbrochen. “Bun?”, fragt Maria. “Daaa, buuun”, antworten wir mit vollen Mündern (“Jaaa, guuut”)… Nach dem Essen sind wir vollgefressen und angedudelt vom Palinka. Wir machen eine kleine Wanderung durch Breb und Umgebung. Zum Ausnüchtern kommen wir allerdings erst gar nicht, denn unterwegs werden wir mehrmals von Einheimischen angesprochen und zu weiteren Palinkarunden eingeladen. Ein Besuch des Dorfes Breb ist also durchaus empfehlenswert – vor allem für diejenigen, die eine robuste Leber haben.
Die Rückreise
Nach unserem Wochenendausflug muss ich auch schon wieder zurück nach Deutschland. Schweren Herzens verabschiede ich mich von Chris, den anderen Volunteers und der Familie… Die Rückfahrt verläuft nicht minder anstrengend als die Hinfahrt. Dieses Mal fühle ich mich zwar nicht mehr fremd, denn die Rumänen sind mir in den zwei Wochen näher gekommen, dafür sitze ich aber neben einem stark schwitzenden Mann und vor drei kleinen Kindern, die fast ununterbrochen schreien und an meinem Sitz rütteln. Auch die Grenzüberquerung nach Ungarn ist stressreich. Wenige Wochen vorher hat Ungarn seine Grenzen verriegelt, um sich vor Flüchtlingen zu schützen. Nun nehmen sich die Grenzbeamten ausgiebig Zeit, unseren Bus zu inspizieren (denken sie, dass da Flüchtlinge versteckt sind?) und wir können die Grenzlinie erst nach eineinhalb Stunden Warterei passieren. Immerhin sitzt vor mir ein schwäbisches Pärchen, das mich mit Essen und versorgt. So fühle ich mich gut aufgehoben.
Als wir nach knapp 30 Stunden Fahrt in Ulm einrollen, bin ich dennoch erleichtert. Nächstes Mal werde ich definitiv fliegen!